Antrag der SPD-Abteilung Dahlem

Zur Diskussion über das Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 2017:
Gegen wachsende Ungleichheit, für mehr soziale Gerechtigkeit

Nicht erst kurz vor der Bundestagswahl 2017, sondern schon jetzt muss die Partei im Dialog mit den Mitgliedern und den Wählerinnen und Wählern glaubwürdig erklären: Wir wollen als führende Regierungspartei einen Politikwechsel durchsetzen, um das dramatische Anwachsen der Ungleichheit zu stoppen, wodurch sowohl der soziale Zusammenhalt als auch die wirtschaftliche Entwicklung gefährdet wird, Wir wollen mehr Gerechtigkeit wagen, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und der wachsenden Politikverdrossenheit der Wählerinnen und Wähler entgegenzuwirken.

Die SPD-Dahlem, der LPT der SPD Berlin, ist besorgt: Die Bemühungen führender SPD-Politikerinnen und SPD-Politiker, sich vom „linken“ Wahlprogramm 2013 zu distanzieren, insbesondere von der Forderungen nach höheren Steuern für Superreiche zur Finanzierung dringender Zukunftsinvestitionen, werden keine verlorenen Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen, sondern die Wahlchancen der SPD noch weiter verschlechtern. Daher lehnt die SPD-Dahlem, der LPT, auch das vom Parteipräsidium beschlossene Impulspapier „Starke Ideen für Deutschland 2025“ als Grundlage für die Diskussion über das Wahlprogramm 2017 als kontraproduktiv ab, da es inhaltlich für ein „Weiter so mit Merkel!“ plädiert. Insbesondere die Distanzierung von den steuerpolitischen Forderungen der SPD von 2013 zeigt, dass die SPD keine politische Alternative zu CDU/CSU anbieten, sondern die Politik der Union übernehmen will: „Eine alte Trennungslinie zwischen Sozialdemokraten und Konservativen“ bei der Frage nach den Mitteln zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben existiere nicht mehr. Anders als die SPD früher antworten die „Starken Ideen“ auf diese Frage: „Die SPD ist gut beraten, die Antwort darauf nicht vorschnell mit dem Ruf nach höheren Schulden oder höheren Steuern zu geben.“

Diese Antwort ist für die SPD diffamierend, weil sie im Klartext bedeutet: Als es diese Trennungslinie 2013 noch gab, hatten die Konservativen gegen die Sozialdemokraten Recht. Denn diese (CDU/CSU, FDP, AFD) waren „gut beraten“, als sie höhere Steuern ablehnten, während SPD, Grüne und LINKE nicht „gut beraten“ waren, weil sie „vorschnell“ nach höheren Steuern riefen und daher die die Wahl verloren haben. Beim Thema unzureichende Investitionen sehen die „Starken Ideen“ nur das Problem, dass sich die privaten Investoren zu sehr zurückhalten. Und zur Lösung dieses Problems erinnern sie an eine Wunderwaffe aus dem Nachlass der verblichenen FDP: „Die innere Öffnung unserer Gesellschaft für die Chancen der Zukunft bedarf höherer Akzeptanz und besserer Anreize für solche Investitionen. Bürokratieabbau ist dafür ein wichtiger Schritt.“ (S. 23)

Während die „Starken Ideen“ akute Probleme, wie wachsende Ungleichheit, private und öffentliche Armut, ignorieren, malen sie das Bild einer heilen Welt nie gekannten Wohlstands und fragen nur: „Wie sichern und schaffen wir auch in Zukunft Wohlstand, Sicherheit und Zusammenhalt?“ (S. 2) Aber sie stellen nicht einmal die Frage: Wie können wir in naher Zukunft den heute in Armut lebenden 12, 5 Millionen Menschen helfen, dass sie wieder bescheiden am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilnehmen können und sich nicht mehr ausgegrenzt fühlen? Das Papier wendet sich nur an die, die im Wohlstand leben und verspricht ihnen: Diesen Wohlstand wird die SPD gegen alle künftig drohenden Gefahren erfolgreich verteidigen.
Da die grundsätzliche Tendenz und Richtung dieses Papiers einen radikalen Bruch mit den Grundforderungen und Grundwerten der SPD bedeutet und ihren „Markenkern der sozialen Gerechtigkeit“ unkenntlich macht, fordert die SPD Dahlem (der LPT) alle Gremien und Mitglieder der SPD auf, dieses Papier als für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unzumutbar zurückzuweisen.

Als „Grundlage für eine breite Diskussion über die Zukunft unseres Landes“ (Starke Ideen“, S. 1) unterstützen wir sowohl das Wahlprogramm von 2013 als auch das vom Landesvorstand der SPD Schleswig-Holstein am 1. Juni 2015 beschlossene Diskussionspapier „DIE ZEIT IST REIF: MEHR GERECHTIGKEIT WAGEN – POSITIONEN DER SPD SCHLESWIG-HOLSTEIN FÜR EINE GERECHTE POLITIK“.

Dieses Diskussionspapier distanziert sich nicht vom „linken“ Wahlprogramm 2013, rückt nicht „in die Mitte“, klammert nicht die akuten Gegenwartsprobleme aus, benennt die konkreten Gegenwartsaufgaben, und damit die Probleme, die in der Zivilgesellschaft und in der Partei diskutiert werden. Es macht konkrete Vorschläge für die Lösung dieser Probleme und verschweigt nicht die Tatsache, dass dafür höhere Steuereinnahmen notwendig sind. Und es macht die „soziale Gerechtigkeit“ sichtbar zum „Markenkern“ der SPD.

Die SPD Dahlem, der LPT, fordert alle Gremien und Mitglieder der SPD auf, für ein Wahlprogramm zu arbeiten, das klar als Alternative zur Politik von CDU/CSU erkennbar ist, als glaubwürdiges Bekenntnis für einen Politikwechsel in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit, gegen zunehmende Ungleichheit und Armut.

Mit einem solchen Programm, verbunden mit der realistischen Machtperspektive Rot-Rot-Grün, kann die SPD im glaubwürdigen Dialog mit den stärker gewordenen Initiativen und Organisationen der kritischen Zivilgesellschaft jene Wechselstimmung erzeugen, die 2017 den notwendigen Politikwechsel möglich macht.

Begründung des Antrags:

Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler befürwortet Steuererhöhungen für Superreiche: Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker der SPD und der Grünen begründeten ihre Distanzierungen vom Wahlprogramm 2013, vor allem von der Forderung nach Steuererhöhungen für Superreiche, mit dem „Argument“: Diese „linken“ Forderungen nach einem Politikwechsel waren die Ursache dafür, dass SPD und Grüne so mäßige Wahlergebnisse erzielten und Gabriel nicht Kanzler einer rot-grünen Koalition werden konnte. Dieses „Argument“ ist sachlich falsch. In allen Meinungsumfragen vor und nach den Wahlen befürwortete eine deutliche Mehrheit von 60 bis 80 Prozent diese gut begründeten steuerpolitischen Forderungen. Auch am 18. Oktober 2013 befürworteten in einer Umfrage für das Politbarometer noch 69 Prozent, also über zwei Drittel, die steuerpolitischen Forderungen der Oppositionsparteien. Und diese drei Parteien, die mehr öffentliche Mittel für soziale Reformen und dringend notwendige Investitionen zur Sanierung der maroder werdenden Infrastruktur forderten, gewannen auch eine Mehrheit der Bundestagsmandate. Nur die erhoffte Mehrheit für eine rot-grüne Koalition wurde deutlich verfehlt.

Auf dem Parteitag der SPD im November 2013 in Leipzig erklärte Gabriel die Ursache für das bescheidene Ergebnis der SPD zutreffend: „Ja, die Deutschen wollten auch dieses Mal mehr soziale Gerechtigkeit und sahen das Auseinanderdriften von Arm und Reich als Problem an. Die SPD konnte die Wählerinnen und Wähler aber nicht ausreichend von ihrer eigentlichen Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit überzeugen. Der Zwiespalt der Agendapolitik war von uns nicht auszuräumen.“ (Gabriel am 14. 11. 2013 in Leipzig).

Aus dieser überzeugenden Erklärung folgt logisch: Wenn wir 2017 bessere Ergebnisse erzielen wollen, müssen wir uns noch stärker bemühen, die Wähler von unserer „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“ zu überzeugen“. Daher ist es irritierend, wenn inzwischen führende SPD-Politiker nicht mehr ein schwaches, sondern ein „starkes Profil bei der sozialen Gerechtigkeit“ für das schlechte Wahlergebnis der SPD verantwortlich machen, wie z. B. Stephan Weil in der Frankfurter Rundschau vom 26./27. Juni 2014. Und es ist nicht zu glauben, dass die geforderte „Neupositionierung“ der SPD in die „Mitte“, weg von sozialer Gerechtigkeit zu „Wirtschaftskompetenz“ und „Sicherheit“, dazu führen wird, dass die SPD 2017 den Kanzler stellen kann.

In den „Starken Ideen“ vom Juni 2015 dokumentiert die Mehrheit der SPD-Führung, dass sie offensichtlich diese „Neupositionierung“ zur „Mitte“ durchsetzen möchte. Dieser Text bestätigt das Fazit von Peter Dausend in der ZEIT vom 18 Juni 2015: „Der Schlüsselbegriff lautet nicht mehr `Gerechtigkeit` , sondern `Sicherheit`.“ Die Befürworter dieses Textes ignorieren eine wichtige Erkenntnis: Hauptursache für die wortreich beklagte zunehmende „Unsicherheit“ ist die zunehmende Kluft zwischen Reich und Arm, die soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Eine Politik, die nichts gegen die wachsende Ungerechtigkeit tun will, kann auch nichts für die versprochene „Neue Sicherheit“ tun.

Nicht nur aus Verantwortung für die Erneuerung des Sozialstaats und die Verteidigung der Demokratie in Deutschland, sondern auch aus aufgeklärtem „Parteiegoismus“ muss die SPD ihre „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“ wieder mit einer politischen Alternative zum „Weiter so!“ glaubwürdig machen: Mehrere wissenschaftliche Studien bestätigen: Besonders in den unterprivilegierten Volksschichten geht die Wahlbeteiligung dramatisch zurück. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die Wahlbeteiligung in Kölner Villenvierteln noch fast 90 Prozent, in Hochhaussiedlungen mit 40 Prozent weniger als die Hälfte. In Bremen wählte im Mai 2015 nur noch jeder Zweite, allerdings in den gutbürgerlichen Vierteln noch 75 Prozent, in den prekären Vierteln nur noch 35 Prozent. (Nicht formal, aber faktisch wird damit das allgemeine und gleiche Wahlrecht durch ein Zensuswahlrecht ersetzt.) Die Süddeutsche Zeitung (Online) titelte am 11. Mai „Arm wählt nicht“. Und kommentierte: Die SPD „hat von allen Parteien die meisten Wähler …verloren“ und „in den vergangenen Jahren das Vertrauen der unteren Gesellschaftsschichten eingebüßt“. Und sie gilt nun wieder „als Partei von Hartz IV und Agenda 2010, der sozialen Kälte und Gleichgültigkeit“.

Die wachsende Ungleichheit und Armut ist die Ursache dafür, dass die Wahlbeteiligung in den „Unterschichten“ dramatisch zurückgegangen ist, und zwar zu Lasten der SPD. Daher müsste vor allem die SPD etwas gegen diese wachsende Ungleichheit tun, und zwar aus Verantwortung für die soziale Qualität unserer Gesellschaft, aber auch aus aufgeklärtem „Parteiegoismus“: Eine Umfrage unter Nichtwählern nach der Bundestagswahl 2013 ergab: 50 Prozent der Nichtwähler, die sich vorstellen konnten, wieder einmal zu wählen, würden dann SPD wählen.

Doch wenn die SPD weiter von ihrer „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“ abrückt, kann sie sie keine verlorenen Wähler aus dem Prekariat zurückgewinnen, sie wird dann sogar aus der „arbeitenden Mitte“ weitere Wähler verlieren, die sich noch an sozialdemokratischen Grundwerten orientieren. Denn nicht nur die persönlich von Ausgrenzung und Armut Betroffenen, sondern auch viele aus der „arbeitenden Mitte“ sehen „das Auseinanderdriften von Arm und Reich als Problem“ (Gabriel Nov 2013), sind darüber empört und fordern von sozialdemokratischer Politik, etwas dagegen zu tun.

Nur aus diesem Potenzial kann die SPD Wähler zurückgewinnen und neue hinzugewinnen. Doch die „Starken Ideen“ übersehen völlig dieses Potenzial, das sich unübersehbar bemerkbar macht in den kapitalismuskritischen sozialen Initiativen und Aktionen, in wissenschaftlich-publizistischen Debatten, jüngst besonders unübersehbar über Pikettys Bestseller „Das Kapital im 21- Jahrhundert“. Die „Starken Ideen“ nehmen nicht einmal die Publikationen von Institutionen zur Kenntnis, die der SPD nahestehen, wie z. B. : Friedrich-Ebert-Stiftung, ihre eigene Theoriezeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (u. a. Heft 6/2015 mit dem Schwerpunkt „Demokratie vs. Kapitalismus“), die Zeitschrift spw (Sozialistische Politik und Wirtschaft), die Zeitschrift perspektiven ds oder die „Positionen der SPD Schleswig-Holstein für eine gerechte Politik“.

Nur wenn sich die SPD, wie Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, an diesen gesellschaftskritischen Diskussionsprozessen beteiligt, könnte im Volk wieder jene Wechselstimmung entstehen, die die SPD, wie 1972, zur stärksten Partei macht, die den schon längst notwendigen Politikwechsel durchsetzt, diesmal in einer Rot-Rot-Grünen Koalition.