Diskussionspapier von Dr. Horst Heimann

Plädoyer für einen Politikwechsel 2017 – gegen „Weiter so!“ mit „Starken Ideen“

SPD-Linke bekennt sich zum Wahlprogramm von 2013 und zum Politikwechsel 2017, aber sie muss darüber auch intensiv und offensiv diskutieren.

Alle politischen Stellungnahmen von SPD-Linken und die Beiträge in spw 205 belegen: Die SPD-Linke, mit allen „Unter- und Nebenflügeln“, steht weiter für einen Politikwechsel, mit der Kernforderung nach Steuererhöhungen für Superreiche. Hilde Mattheis, Vorsitzende der DL 21, verweist auf den Programmbaustein der DL 21 von 2013: „Eine Überwindung der Sparpolitik durch langfristige öffentliche Investitionen und deren Finanzierung durch gerechtere Steuern.“ (S. 60) Oliver Kaczmarek möchte, dass die Linken „für das nächste Wahlprogramm das Steuerkonzept aus dem Wahlprogramm 2013 sichern.“ (S. 58) Carsten Sieling betont: „Eine glaubwürdige Politik gegen soziale Ungleichheit muss zum Kernanliegen der SPD werden.“ Auch er verweist auf den Beitrag der Linken für das Wahlprogramm 2013, u. a. zur Steuerpolitik: „Jetzt geht es darum, diese Beschlüsse zu verteidigen und auf ihre Umsetzung zu pochen.“ (S. 67)

Die Linken kritisieren zwar, dass sich viele SPD-Politiker seit 2014 von den steuerpolitischen Forderungen des Wahlprogramms von 2013 distanzieren. Aber sie unterschätzen die Entschlossenheit dieser Politiker, die Linkswende der SPD im Wahlprogramm von 2013 deutlich zu korrigieren und endgültig in die ominöse „Mitte“ zurückzuschwimmen. Und sie bemühen sich noch nicht offensiv genug, eine neue argumentative Diskussion auszulösen. Im Wahlprogramm 2017 haben die Positionen der SPD-Linken nur dann eine Chance, wenn sie auch über Steuererhöhungen als Voraussetzung für einen Politikwechsel diskutieren.

Diese intensive Diskussion ist notwendig, weil die zahlreichen Distanzierungen führender SPD-Politiker vom Wahlprogramm 2013 nicht als Beiträge für die Debatte über das Wahlprogramm 2017 gemeint sind, sondern als endgültige Festlegung für eine Kurskorrektur, über die man nicht mehr streiten darf. Denn die Forderungen nach Steuererhöhungen, und damit „ein starkes Profil bei der sozialen Gerechtigkeit“, halten sie ja – kontrafaktisch – für die Ursache des unbefriedigenden Wahlergebnisses im September 2013. Dass es nicht um eine Diskussion über Steuerpolitik geht, sondern um die verbindliche „Verkündung“, dass die SPD ihren Wandel von der „Steuererhöhungspartei“ zur „Steuersenkungspartei“ unwiderruflich vollzogen hat, bekräftigt auch Thomas Kralinski mit der urdemokratischen Formulierung: „Es ist nur folgerichtig, dass Sigmar Gabriel das Ende der Steuererhöhungspolitik verkündete (fettgedruckt H. H.) und die Bereitschaft zur Steuersenkung.“ (Vergl. ausführlich über den Distanzierungswettlauf meinen Beitrag in spw 204)

Wer die Tendenzen zum radikalen Kurswechsel nach rechts und zur Abkehr vom Wahlprogramm 2013 bislang unterschätzt hat, sollte aber jetzt aufgerüttelt werden, und zwar durch:

„Starke Ideen für Deutschland 2025“

Dieses im Sommerloch 2015 vom Parteipräsidium beschlossene „Impulspapier“ wiederholt nicht nur die Absagen an Steuererhöhungen, sondern dokumentiert erstmals auch die Abkehr vom über 150 Jahre alten Markenkern der SPD: Soziale Gerechtigkeit. Schon am 18. Juni 2015 hatte Die ZEIT die Quintessenz dieses Papiers, das viele als „Gabriel-Papier“ bezeichnen, auf den Punkt gebracht: „Der Schlüsselbegriff lautet nicht mehr `Gerechtigkeit`, sondern `Sicherheit`.“ Es ziele nicht „auf die Ausgestoßenen“, sondern auf die, die „sich pudelwohl (fühlen)“.

Schon „Eine Vorbemerkung“ macht diese neue Zielrichtung deutlich: „Wie sichern und schaffen wir auch in Zukunft Wohlstand, Sicherheit und Zusammenhalt?“ (S. 2) Es geht also um die Menschen, die im Wohlstand leben und deren Wohlstand die SPD auch in Zukunft sichern will. An keiner Stelle wird die wachsende Ungleichheit erwähnt, die heute zunehmende private und öffentliche Armut, bei gleichzeitig zunehmendem exzessiven Reichtum einer kleinen Minderheit. Nie wird die Frage gestellt: Wie können wir in naher Zukunft den heute in Armut lebenden 12,5 Millionen Menschen helfen, dass sie wieder bescheiden am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilnehmen können und sich nicht mehr ausgegrenzt fühlen? Wie können wir den sozialen Zusammenhalt nicht nur für die Zukunft sichern, sondern zunächst erst einmal wiederherstellen?

Während die „Starken Ideen“ die heute akuten sozialen Probleme ignorieren, malen sie das Gemälde einer wunderschönen heilen Welt nie gekannten Wohlstands, der allerdings in der Zukunft gefährdet ist, aber auch in der Zukunft durch die SPD gesichert wird. Die SPD hofft offensichtlich, neue Wähler zu gewinnen, wenn sie künftig den Wohlstand laut lobt, statt die wachsende Armut zu kritisieren und zu bekämpfen. (In diese Richtung zielte auch eine Bemerkung von Fahimi im Vorwärts, sie unterhalte sich mit Schäfer-Gümbel darüber, „wie man Wohlstand besser messen könne“. Und Andrea Nahles denkt darüber nach, wie man Armut statistisch bekämpfen kann, indem man sie so misst, dass es weniger Arme gibt.
Wenn die Entwicklung der SPD nach der Bundestagswahl 2013 besonders positiv bewertet wird, als „der Beginn eines neuen Selbstverständnisses der SPD“ (Mitgliedervotum für Große Koalition) und „offener Prozess der Erneuerung“ (S. 2), so muss das Sozialdemokraten zumindest irritieren, besonders der politische Inhalt dieses „neuen Selbstverständnisses“: Das Papier verweist (S. 11) auf „eine alte Trennungslinie zwischen Sozialdemokraten und Konservativen“, die auftauche bei der Frage, „woher kommen die dafür notwendigen finanziellen Ressourcen“, um die „soziale, innere, äußere Sicherheit … sicherzustellen.“ Die Antwort der „Starken Ideen“ lautet, im Sinne des „neuen Selbstverständnisses der SPD“, klar und deutlich: „Die SPD ist gut beraten, die Antwort darauf nicht vorschnell mit dem Ruf nach höheren Schulden oder höheren Steuern zu geben.“ Das heißt im Klartext: Diese „alte Trennungslinie zwischen Sozialdemokraten und Konservativen“ gibt es dank der „Erneuerung“ der SPD nicht mehr. Und als es diese Trennungslinie 2013 noch gab, hatten die Konservativen gegen die Sozialdemokraten Recht. Denn die Konservativen (CDU/CSU, FDP, AFD) waren 2013 „gut beraten“, weil sie höhere Steuern ablehnten. Dagegen waren SPD, Grüne und Die LINKE nicht „gut beraten“, weil sie „vorschnell“ nach höheren Steuern riefen und daher die Wahl verloren, obwohl diese drei Parteien im Bundestag eine Mehrheit haben.

Die SPD war also 2013 von ihren Parteitagsbeschlüssen leider „nicht gut beraten“. Doch glücklicherweise ist sie inzwischen dank eines „offenen Prozesses der Erneuerung“ von ihrem Großen Koalitionspartner und vom Berater Thomas Hüser so „gut beraten“, dass sie ihre steuerpolitischen Irrwege erkannt hat und noch rechtzeitig auf den rechten Weg zurückgekehrt ist.

Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, muss die SPD, wie in den „Starken Ideen“ gefordert, durchaus „die Diskussion über die Perspektiven sozialdemokratischer Politik“ mit der Mitgliedschaft und der Zivilgesellschaft führen. (S. 2), und zwar „offen und kontrovers“.
Doch was „offen und kontrovers“ auf der Grundlage der „Starken Ideen“ bedeutet, demonstriert der „Auftakt der Debatte“ im Vorwärts 08-09/2015, dem auch das Impulspapier beigelegt ist. Zunächst ginge es um 5 Leitfragen: „1. Was heißt für Dich `Wohlstand`?“ (Eine Leitfrage „Was heißt für Dich Armut und Ungerechtigkeit ?“ gibt es nicht, weil es dies ja in unserer Wohlstandswelt auch nicht gibt!) Die weiteren Leitfragen beziehen sich auf „Gute Arbeit“, „Sicherheit“, „Familie“ und „die wichtigste Aufgabe der SPD“.

Die PR-Ziele der „Perspektivdebatte“ werden besonders deutlich in der Art und Weise, wie „die Mitglieder der Parteispitze die neun Kapitel vorstellen“: Ganz im Sinne des beschönigenden Weltbildes loben die meisten unsere heutige „wunderschöne Wohlstandswelt“, auf die aber in der Zukunft große Gefahren lauern. Manche Sätze klingen nicht nur wie wörtliche Zitate Merkels, sondern sind es auch: „Deutschland geht es gut.“ (Scholz) „Deutschland ist ein starkes und stabiles Land.“ Aber viele blicken „mit Sorge auf die Zukunft.“ „… wir wollen diese neuen Unsicherheiten … offen und kontrovers diskutieren.“ (Gabriel) Offensichlich glaunt man: Wenn wir negative Wörter wie Armut oder Ungerechtigkeit vermeiden, zur Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft nur vom „Wohlstand“ sprechen, also so wie Merkel sprechen, werden uns bald auch Merkel-Wähler wählen.

Wenn der Schatzmeister Dietmar Nietan auf „Fehlentwicklungen“ hinweist, „welche die Grundlagen unseres demokratisch verfassten Gemeinwesens schleichend aufweichen“, und wenn er realistisch erkannt hat, dass nur mit „einem Gegenentwurf zum entfesselten globalen Kapitalismus … wieder mehr Menschen auf die Sozialdemokratie hoffen (werden)“, dann fügt er nicht hinzu: Die „Starken Ideen“ können dabei nicht helfen, denn sie wissen nichts von einem „entfesselten globalen Kapitalismus“ und noch weniger von einem „Gegenentwurf“.

Für die geplante Debatte mit „Verbänden und Organisationen der Zivilgesellschaft“ wäre nur die INSM (Initiative Neue Asoziale Machtwirtschaft) ein geeigneter und gleichgesinnter Partner. Fast alle anderen aktiven Teile der Zivilgesellschaft erwarten von politischen Verbündeten, dass sie schon gegenwärtige, nicht erst künftige „Fehlentwicklungen“, erkennen und korrigieren und wenigstens über einen „Gegenentwurf zum entfesselten globalen Kapitalismus“ diskutieren. Auch für viele Sozialdemokraten sind nicht nur einige Passagen der „Starken Ideen“ inakzeptabel, sondern ihre grundsätzliche Richtung und Tendenz, weil es sich um eine klare Abkehr von den Grundforderungen und Grundwerten des Demokratischen Sozialismus handelt.

Grundlage für einen erfolgreichen innerparteilichen und gesamtgesellschaftlichen Dialog über das Wahlprogramm 2017 kann daher nur das gute Wahlprogramm von 2013 sein und auch das Diskussionspapier

„DIE ZEIT IST REIF: MEHR GERECHTIGKEIT WAGEN – POSITIONEN DER SPD SCHLESWIG-HOLSTEIN FÜR EINE GERECHTE POLITIK“,

beschlossen am 1. Juni 2015 vom Landesvorstand der SPD Schleswig-Holstein.

Diese beiden programmatischen Dokumente, demokratisch legitimiert, enthalten tatsächlich starke Ideen für eine sozialdemokratische Politik, die schon gegenwärtige „Fehlentwicklungen“ korrigieren kann, nicht nur künftig drohende „Unsicherheiten“ zu verhindern verspricht.

Dieses Diskussionspapier der SPD Schleswig-Holstein distanziert sich nicht vom Wahlprogramm 2013, rückt nicht nach rechts, klammert nicht die akuten Gegenwartsprobleme aus, benennt die konkreten Gegenwartsaufgaben für eine verantwortungsbewusste Politik, und damit auch die Probleme, die in der Partei und in der politisch engagierten Zivilgesellschaft intensiv diskutiert werden. Es macht Vorschläge für die politische Lösung dieser Probleme und verschweigt nicht die Tatsache, dass dafür höhere Steuereinnahmen notwendig sind.

Dagegen zeigen folgende Floskeln aus den „Starken Ideen“, dass dieser Teil der SPD die Frage nach der Finanzierung der notwendigen öffentlichen Aufgaben nicht nur nicht „vorschnell“, sondern überhaupt nicht beantworten will: Die SPD „darf und muss“ zwar etwas gegen das „sozialschädliche Steuerdumping in Europa“ tun. „Dabei geht es nicht darum, möglichst hohe Steuern zu erheben. Sondern es geht darum, möglichst allen Menschen in Deutschland und in Europa ein ausreichendes Maß an Wohlstand und Sicherheit zu ermöglichen.“ (S. 11)

Beim Thema Investitionen und „Investitionsschwäche“ sehen die „Starken Ideen“ nur das Problem, dass sich „private Investoren“ zu sehr zurückhalten. Und zur befriedigenden Lösung dieses Problems bieten sie eine Wunderwaffe aus dem Nachlass der verblichenen FDP an: „Die innere Öffnung unserer Gesellschaft für die Chancen der Zukunft bedarf höherer Akzeptanz und besserer Anreize für solche Investitionen. Bürokratieabbau ist dafür ein wichtiger Schritt.“ (S. 23) Die Erneuerung unserer maroden Infrastruktur muss also nach Meinung dieser SPD teurer werden, weil es dabei um verbesserte Renditemöglichkeiten für arbeitsloses Kapital geht.

Diese grundsätzliche Ablehnung der „Starken Ideen“ ist zugleich zu verstehen als Aufforderung, diesen Text aufmerksam zu lesen. Die folgenden Anmerkungen sind daher nur Hinweise auf weitere Kostbarkeiten: Die SPD müsse Wirtschaftswachstum fördern, denn bei sinkendem Wachstum „finden immer eher soziale Verteilungskämpfe und kaum sozialer, kultureller oder ökologischer Fortschritt statt.“ (S. 14) Das bedeutet im Klartext: Die Arbeiterbewegung, die soziale Verteilungskämpfe geführt hatte, hat damit den „sozialen, kulturellen oder ökologischen Fortschritt“ behindert.

Wie Merkel verkündet das Papier: „3. DEUTSCHLAND IST EIN STARKES LAND:“ (S. 8) Und das dank der Agenda-Politik, die „Deutschland von Grund auf zum Besseren verändert (hat)“. Nach den überschwenglichen Lobeshymnen auf die durch die SPD geschaffene wunderschöne neue Wohlstandswelt ohne akute Probleme in der Gegenwart, kommt allerdings ein beängstigender Blick auf „4. EINE WELT VOLLER UNSICHERHEITEN:“ (S. 9) Trotz der gegenwärtig so guten Lage Deutschlands „gibt es große Verunsicherungen“. Viele Hoffnungen nach dem Fall der Mauer wurden enttäuscht, statt Frieden „erleben wir eine Welt voller Unsicherheiten“. Statt zu einem demokratischen und friedlichen Partner zu werden, „wirkt Russland heute autokratisch und außen- wie innenpolitisch aggressiv“.

„Eine sehr tiefgehende Verunsicherung der Bevölkerung“ bezieht sich auf die Sorge um die künftige Gefährdung unseres Sozialstaats: „Die Bedenken hinsichtlich der Zuwanderung in das Sozialsystem sind groß.“ (S. 10) Mit dieser Aussage hofft die SPD wohl, so viele Wähler wie die CSU zu gewinnen, wenn sie signalisiert: Auch wir warnen, wie unser rechtspopulistischer Koalitionspartner, vor „der Zuwanderung in das Sozialsystem“. Das ist einfacher, als dieser „tiefgehenden Verunsicherung“ mit dem Hinweis auf die sozialstatistische Tatsache entgegenzutreten: Die Zuwanderung entlastet unsere Sozialkassen, weil die Zuwanderer mehr einzahlen als man ihnen auszahlt.

Immer wieder wird deutlich, dass es sich in den „Starken Ideen“ nicht um eine sachliche Analyse unserer Gesellschaft handelt, und die Suche nach politischen Lösungen für ihre Probleme, sondern um einen schlichten (oder schlechten) Werbetext für eine Partei. Die PR-Experten glauben, die Angst vor einer unsicheren Zukunft dominiere das politische Bewusstsein der Menschen und führe auf dem politischen Markt zur ängstlichen Suche nach einem Angebot für Sicherheit.

Aus diesem Glauben folgen „5. Konsequenzen für die Politik der SPD.“: „Es geht jetzt darum, nach Antworten auf die großen Fragen der Verunsicherung zu suchen. … Die oben genannten (Un)sicherheitsfragen der Menschen müssen wir ansprechen und diskutieren.“ (S. 12 f.) Und die SPD übernimmt „die Führung in der Debatte“, wie in Werbekampagnen üblich, durch die inflationäre Wiederholung des Hauptwerbeslogans „Sicherheit“. Sie bietet nicht nur öfter als alle anderen Parteien den Wählern „Sicherheit“ , sondern darüber hinaus „NEUE SICHERHEIT“. Allein auf 8 einander folgenden Zeilen lesen wir 5 mal das besonders attraktive gesteigerte Schlagwort „NEUE SICHERHEIT“. (S. 22) In der Endfassung könnte es unwiderstehlich heißen: Neue super komplett Sicherheit extra plus.

„Die arbeitende Mitte“ ist ein weiteres Werbeschlagwort. Da Werbetexte keine gesellschaftskritischen Begriffe enthalten dürfen, leben wir nicht mehr im Kapitalismus, und zu den Gefahren in der Zukunft gehört nicht die Regression zu den „Klassengesellschaften des 19. Jahrhunderts“, die Piketty diagnostiziert und die auch viele Wähler „verunsichert“. Wir leben in der wertneutralen „Arbeitsgesellschaft“, in der die SPD eine neue Zielgruppe für ihre Werbung entdeckt hat: „Die arbeitende Mitte“, für die die SPD „eine Politik aus der Mitte unseres Landes“ macht. (S. 20) Dieses Schlagwort suggeriert, dass nur „die Mitte arbeitet“, und alles, was sich links – oder auch rechts – der Mitte befindet, nicht arbeitet.

Immer wieder wird der Wille nach einem Kurswechsel sichtbar, weg vom linken Wahlprogramm 2013, zurück zu Schröders Agendapolitik: Es gehe darum, „sich neu ein- und aufzustellen“, wie z. B. „mit der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit im Zeitalter einer globalisierten Ökonomie mit den Arbeitsmarktreformen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen“. (S. 19) Mit der demonstrativen Rückkehr zur Agenda-Politik Schröders hofft die SPD, „eine andere Mehrheit als die Große Koalition zu ermöglichen“: (S. 19) Und diese wird sie sicher erreichen, nämlich eine absolute Mehrheit für Merkel. Zu dieser „anderen Mehrheit“ wird auch der PR-Experte Thomas Hüser beitragen, den Gabriel auf Empfehlung Bodo Hombachs Anfang 2015 zu seinem „Neuen Berater“ wählte. Bis Mai 2015 noch CDU-Mitglied, prognostizierte er im Dezember 2014: „Gabriel wird beim nächsten Mal wieder 20 plus x einfahren… Und das ist auch gut so“. Doch als Berater Gabriels wird Hüser dafür sorgen, dass er 2017 „20 minus XXL einfahren wird“. (Die Moral von der Geschicht: Nur manche Kälber wählen ihre Berater selber.)

Die geplante Kurskorrektur würde der SPD weitere Verluste an Vertrauen und Wählern einbringen, weil in den „Starken Ideen“, anders als in der rein kommerziellen Werbung, das beworbene Produkt SPD glücklicherweise etwas – oder sogar – viel besser ist als der Werbetext, so dass die SPD durch eine solche Werbung noch weiter an Attraktivität verliert. Und zwar deshalb, weil in diesem Werbetext die traditionelle „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“, die die SPD für ihre Wähler attraktiv machte, durch eine ganz andere ersetzt wurde: „Es ist seit jeher die Kernkompetenz der SPD, unser Land mit klugen Veränderungsprozessen immer wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen.“ Wie z. B. „Gerhard Schröders Reformpolitik“. (S. 17) (Die SPD hatte damals tatsächlich Deutschland auf die Höhe des neoliberalen Zeitgeistes gebracht.)

„Agenda 2010“ und „Hartz-IV“ sind also Beispiele für die „neue Kernkompetenz“ der SPD, mit der Gabriel 2017 neue Wähler werben will. Auf dem Leipziger Parteitag im November 2013 dagegen bezeichnete er noch „die soziale Gerechtigkeit“ als die „eigentliche Kernkompetenz“ der SPD. Und eine Beschädigung dieser „Kernkompetenz“ durch die „Agendapolitik“ nannte er ausdrücklich als Ursache für das unbefriedigende Wahlergebnis im September 2013: „Ja, die Deutschen wollten auch dieses Mal mehr soziale Gerechtigkeit und sahen das Auseinanderdriften von Arm und Reich als Problem an. Die SPD konnte die Wählerinnen und Wähler aber nicht ausreichend von ihrer eigentlichen Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit überzeugen. Der Zwiespalt der Agendapolitik war von uns nicht auszuräumen.“

Gabriel hofft auf einen Wahlerfolg 2017, wenn wir uns nicht mehr vergeblich bemühen, unsere Wähler von unserer „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“ zu überzeugen, , sondern uns an jene wenden, die „das Auseinanderdriften von Arm und Reich“ nicht als Problem sehen, die zufrieden im Wohlstand leben und sich ihre Lebensfreude nicht durch Empathie für Menschen in Armut und Not trüben lassen wollen. Also wie es Peter Dausend schon am 18. Juni 2015 in der ZEIT formulierte: Gabriel „versucht die SPD ein deutliches Stück näher an jenes Deutschland heranzurücken, in dem die überwiegende Mehrheit der Deutschen sich pudelwohl fühlt.“

Doch aus „jenem Deutschland“ kann die SPD keine Wähler gewinnen, weil sich diese durch die „Schwäbische Hausfrau“ gut vertreten fühlen und daher nach keiner neuen „Schutzmacht“ Ausschau halten. Daher liegt das Wählerpotenzial der SPD weiterhin bei jenen, für die trotz des neoliberalen Tsunamis „soziale Gerechtigkeit“ der wichtigste Grundwert geblieben ist. Und das sind nicht nur die 20 Prozent des Prekariats, sondern auch jene Menschen in der „arbeitenden Mitte“, die trotz eigenen relativen Wohlstands „das Auseinanderdriften von Arm und Reich“ als Problem sehen, darüber empört sind und sich dadurch auch „verunsichert“ fühlen.

Um diese Bürger anzusprechen, reicht es nicht aus, weiterhin das Wort „Gerechtigkeit“ möglichst oft zu benutzen oder sogar – wie die SPD-Bundestagsfraktion – „eine Reforminitiative für mehr Gerechtigkeit“ zu schaffen mit dem Titel: „Projekt Zukunft: #Neue Gerechtigkeit“. Der Bericht über diese Initiative der SPD-Fraktion zählt zwar wichtige Problemfelder auf, verwendet inflationär Wörter wie „Gerechtigkeit“ und „gerecht“, ignoriert aber völlig die Kernprobleme für „mehr Gerechtigkeit“, nämlich wachsende Ungleichheit und gerechte Steuern.

Eine Initiative der NRW-SPD „Fundament stärken“, über die ebenfalls im Vorwärts 4-5/2015 berichtet wird, startete am 13 März 2015 mit dem Teilprojekt „Wir kommen hin“. Klaus Wiesehügel, einer der Projektleiter verwies auf die Ergebnisse einer Bertelsmann-Studie nach der Bundestagswahl 2013: Hohe Wahlbeteiligung in gutbürgerlichen Vierteln, niedrige Wahlbeteiligung in Unterschichtenvierteln. Er hat die soziale Dimension des Problems sinkende Wahlbeteiligung erkannt: Nichtwähler „haben viel mit prekären Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit, wenig Einkommen, schlechten Wohnverhältnissen oder geringen Chancen für gute Bildung zu tun.“ Und zutreffend sieht er: Diese Entwicklung „ist gefährlich. Für die Demokratie insgesamt und im Besonderen für die SPD. Ohne diese Stimmen haben wir keine Chance, stärkste Partei mit einem sozialen Profil zu sein.“

Er hat zwar die soziale Dimension des Problems sinkender Wahlbeteiligung erkannt, aber auf die Frage, „Wie muss dieses Problem angegangen werden?“ antwortet er: „Wir müssen auf diese Menschen zugehen und stärker in den Dialog treten. … Wir brauchen über volle Legislaturperioden Dialogformen, mit denen wir Vertrauen zurück gewinnen.“ Nirgendwo erwähnt er, was man denn den Menschen sagen will und kann, wenn man zu ihnen „hingekommen“ ist. Und er verwechselt Ursache und Wirkung: „Diejenigen, die eigentlich eine sozialere Politik bräuchten, gehen nicht wählen.“ Wenn im Sommer 2016 „die systematischen Erkenntnisse daraus … präsentiert und für die gesamte Partei nutzbar gemacht werden“, könnte der gesamten Partei die Erkenntnis nutzen: Die Armen sind nicht ärmer geworden, weil sie nicht zur Wahl gegangen sind. Sie sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie ärmer geworden sind.

Die Mitarbeiter an diesem lobenswerten Projekt – und die ganze SPD – sollten zur Kenntnis nehmen: Bei den Wahlen in Bremen am 10. Mai 2015 wählte nur jeder zweite Wahlberechtigte. In den gutbürgerlichen Vierteln noch 75 Prozent, in den prekären Vierteln nur noch 35 Prozent. Und die Süddeutsche Zeitung (Internet) titelte am 11. Mai: „Arm wählt nicht“. Und der Tenor der Kommentare: Niedrige Wahlbeteiligung „eines der vielen sichtbaren Zeichen Zeichen der sozialen Spaltung“. Die SPD „hat von allen Parteien die meisten Wähler … verloren,“ und „in den vergangenen Jahren das Vertrauen der unteren Gesellschaftsschichten eingebüßt“. Und sie gilt nun wieder „als Partei von Hartz IV und Agenda 2010, der sozialen Kälte und Gleichgültigkeit.“ Und das Fazit lautet: „In Bremen zeigt sich nun, dass ein `Weiter so` für die Sozialdemokraten keine Option ist.“

Noch ist die SPD – und die soziale Gerechtigkeit – nicht verloren

Auch wenn ein Teil der SPD-Machtelite mit den „Starken Ideen“ schon für „Weiter so!“ optiert hat, so könnte doch die SPD insgesamt in einer selbstkritischen Analyse eine ehrliche Bestandsaufnahme vornehmen und eine Erneuerung in einer anderen Richtung suchen als die „Starken Ideen“. Diese vernebeln den Ernst der Lage mit billiger Selbstbeweihräucherung, wie z. B.: Die SPD stets „gesellschaftliche Hoffnungsträgerin“, mit „Überschuss an Utopie und Vision, Begeisterungsfähigkeit“. (S. 6) Doch wenn man heute der „Starken Ideen“-SPD noch einen Überschuss an einer positiven Eigenschaft zubilligen kann, dann ist es nur noch ein Überschuss an Humor. Denn um diesen Text „Starke Ideen“ zu nennen, braucht man wirklich einen großen Überschuss an Humor.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört aber nicht nur der kritische und deprimierende Blick auf die deutlich sichtbare Tatsache, dass das geistig-moralische Kapital der SPD in den letzten Jahrzehnten besorgniserregend geschrumpft ist. Notwendig und ermutigend wäre auch der Blick auf eine weitgehend verborgene und ignorierte Tatsache: Das geistig-moralische Kapital der SPD ist glücklicherweise nicht auf die „Starken Ideen“ begrenzt. Neben dieser dunkel schwarzen gibt es auch noch eine hell rote Seite im politischen Denken von Sozialdemokraten. Es gibt durchaus noch, weitgehend im Verborgenen, ein beachtliches geistig-moralisches Kapital: Zahlreiche Studien und Veröffentlichungen der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Theoriezeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, die von der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus herausgegebene Zeitschrift perspektiven ds, die Zeitschrift der SPD-Linken spw (Sozialistische Politik und Wirtschaft), Publikationen des Instituts Soziale Moderne, auch einige Bücher von kritischen Sozialdemokraten, wie z. B. Sigmar Gabriel, Die Linke neu denken. Und vom 1. Juni 2015: „Die Zeit ist reif: Mehr Gerechtigkeit wagen“ – Beschluss des Landesvorstandes der SPD Schleswig-Holstein.
Doch ein Wermutstropfen: Über die dort analysierten und diskutierten Themen gibt es bisher kaum eine öffentlich wirksame Diskussion an der Basis der SPD. Und auch die meisten Politiker, auch der SPD-Linken, haben kaum Zeit für solche Sachen, Dieses geistig-moralische Kapital liegt daher auf traditionellen Sparbüchern, auf denen die spärlichen Zinsen nicht einmal die Inflationsverluste ausgleichen.

Wenn es gelänge, dieses ungenutzte tote Kapital zunächst in die innerparteiliche Meinungs- und Willensbildung einzubringen, dann könnte die SPD – wie Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem interessanten Partner für die kritischen Gruppen, Bewegungen und Initiativen in der Zivilgesellschaft werde. Die SPD muss nicht nur aus sozialer Verantwortung für einen Politikwechsel in Richtung mehr Gerechtigkeit und gegen wachsende Ungleichheit und Armut eintreten. Sie kann das sogar auch aus „Parteiegoismus“ tun: Eine Umfrage unter Nichtwählern nach der Bundestagswahl 2013 ergab, dass 50 Prozent jener Nichtwähler, die sich vorstellen konnten, wieder einmal zur Wahl zu gehen, dann SPD wählen würden.

Eine repolitisierte SPD hat durchaus Chancen, ihre Position für einen Politikwechsel, der die weitere Zunahme der Ungleichheit stoppt, im Wahlprogramm für 2017 mehrheitsfähig zu machen. Wenn sie es geschafft hat, auf dem Parteikonvent am 20. Juni 2015 die Zustimmung zur Vorratsdatenspeicherung auf 56,6 Prozent zu drücken, dann auch deshalb, weil die innerparteiliche Opposition mit der starken außerparteilichen Opposition intensiv kooperierte und dadurch gestärkt wurde. Auch im Kampf für einen Politikwechsel gegen wachsende Ungleichheit verbessern sich die Chancen, wenn eine zielorientierte Kooperation mit den kritischen wissenschaftlich-publizistischen Diskursen, mit den Sozialverbänden und den kapitalismuskritischen sozialen Bewegungen zustande kommt, in die auch viele enttäuschte SPD-Mitglieder und Wähler geflüchtet sind.

Mit ihrem Kongress „Mehr Gerechtigkeit wagen“ am 19. 9. in Kiel hat die SPD Schleswig-Holstein einen wichtigen Schritt getan, damit die SPD wieder zum Hoffnungsträger für die Mehrheit der Wähler werden kann, für die soziale Gerechtigkeit der oberste Grundwert ist. Eine Allensbach-Umfrage bestätigte jüngst wieder: „Ungewöhnlich hohe Bedeutung messen die Deutschen auch der Kluft zwischen Arm und Reich bei.“ Nur 15 Prozent der Befragten meinten: „Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Deutschland nicht zu groß.“ Wenn die SPD ihre „Kernkompetenz der sozialen Gerechtigkeit“ wieder glaubwürdig vermitteln kann, wird sie aus diesem kritischen Potenzial neue Wähler gewinnen können. Aber nicht aus jener zufriedenen Mitte, die die „Starken Ideen“ ansprechen sollen.

Wenn ein von SPD und kritischer Zivilgesellschaft getragener Diskussionsprozess eine deutliche Alternative zu Merkels „Neoliberalismus mit hausfraulichem Gesicht“ entwickeln würde, könnte im Volk jene Wechselstimmung entstehen, die 2017 zum Politikwechsel führt. So wie Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts heftige innerparteiliche und gesamtgesellschaftliche Kontroversen zur neuen Deutschland- und Ostpolitik führten und die SPD zur stärksten Partei machten, mit 45,8 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent. Eine resozialdemokratisierte, mutig und kompetent diskutierende SPD könnte sich diesem Ergebnis wieder annähern und den Politikwechsel in einer Rot-Rot-Grünen Koalition ermöglichen.